Deutsche Rekorde: Ein Fotograf auf der Jagd nach den Superlativen - [GEO]

2023-02-22 17:12:03 By : Ms. Zola Liu

Man sollte sich die Reisen des Fotografen Christoph Morlinghaus zu 40 deutschen Superlativen nicht als Kinderspiel, aber als verspielt vorstellen. „Erster“ rufen Kinder bei jeder Gelegen­heit, beim Quartettspiel übertrumpfen sie einander mit Bestleistungen, Supermänner und Superfrauen bevölkern ih-re Fantasien – die Lust am Superlativ ist ein elementares Vergnügen.

Dessen Kern ist das Staunen: Was es nicht alles gibt! Wie riesig die ­Dockhalle der Werft in Papenburg, dass an zwei Kreuzfahrtschiffen zugleich gebaut werden kann! Wir haben die hellste künstliche Sonne gebaut!

Eine Spitze wirkt beruhigend, man weiß: Jenseits kommt nichts mehr. Bestleistungen fühlen sich an wie Ruhepunkte. An ihnen kann man sich orientieren.

Morlinghaus will Deutschland zeigen als Ort mit Drang zu diesen beruhi­gen­den Höhen, erfüllt von Träumen und Zukunft. Einen Superlativ eigener Art bedeutete dabei, Zugang zu erhalten zu den extremen Orten; viele sind verborgen, nicht alle suchen die ­Öffentlichkeit. Aber noch die Mühe des Türöffnens, die sich über zwei Jahre hinzog, passt zur Botschaft des Projekts: Die Reise, sagt Morlinghaus, habe seine Überzeugung bekräftigt, dass „alles möglich ist“.

Nationale Superlative ­sind ­al­ler­dings so eine Sache. Im Vergleich mit sich selber vermag jedes Land zu glänzen. Wo aber steht Deutschland in der Parade globaler Superlative?

Doch, auch da hat es Bestleistungen vorzuweisen. Es exportiert zum Beispiel mehr Autos als jedes andere Land, die Bundesliga zählt die meisten Zuschauer unter allen Fußball-Ligen, Deutschland gilt als das beste Land der Erde für Logistikunternehmen

Aber bei der Suche nach deutschen Superlativen fällt vor allem ihre Seltenheit ins Auge. Die Deutschen sind nicht die Glücklichsten auf der Welt, und sie trinken pro Kopf nicht am meisten Bier. Sie sind nicht die Freundlichsten und nicht die Großzügigsten beim Spenden. Aber stets in Sichtweite der Spitze.

Der deutsche Superlativ ist das „beinahe“. Wir sind beinahe die Innovativsten im globalen Wettbewerb; wir haben weltweit nahezu die größte Zuversicht in die Demokratie und fast die geringste Kinder­sterblichkeit; die Work-Life-Ba­lan­ce der Deutschen ist annähernd so gut wie jene der Spitzenreiter, ebenso unsere Geschlechtergerechtigkeit.

Auch nach unten scheuen wir Rekorde: Wir verzeichnen fast die we­nigs­ten Morde pro 100000 Einwohner. Auch bei der Unlust zur Landesverteidigung werden wir geschlagen: Nur 18 Prozent der ­Deutschen geben an, für das eigene Land kämpfen zu wollen – ein im globalen Vergleich mikroskopisch kleiner Wert, den jedoch die Niederlande und Japan noch unterbieten.

Sicherlich, das große Beinahe ist auch ein statistischer Effekt. Angesichts von über 200 Staaten ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass ein anderer extremer ist. Aber gemessen an unseren engsten Konkurrenten ragt unsere Hemmung vor der Spitze doch hervor. Schweizer, Skandinavier, Niederländer, Australier und Neuseeländer sind weniger zaghaft im Erklimmen von Top-Positionen.

Deutschland ist ein Superlativ, der keiner sein will. Uns treibt ein Ehrgeiz, den wir verbergen. Kein Zufall, dass wir unsere Weltmarktführer bezeichnen als hidden champions – als versteckte Helden, die global Branchen beherrschen, deren Namen aber fast niemand kennt: Knorr-Bremse und Fränkische Rohrwerke, nicht Google oder Samsung.

Man sollte diese Zurückhaltung freilich nicht als Manko, sondern als Strategie lesen. Wir lieben unsere Rolle als Weltmeister der zweiten Reihe, da wir damit bestens fahren. Wir sind selten spitze, aber überall vorn mit dabei. Wir ragen kaum heraus, aber an alles heran.

Wir haben dafür sogar einen eigenen, unübersetzbaren Begriff: breite Spitze. Die paradoxe Wendung beschreibt aufs Beste unsere Leidenschaft für das auskömmliche Sammeln möglichst vieler zweiter bis zehnter Plätze. Die Formel des deutschen Erfolgs: lieber den Siegern in den Nacken atmen, als einsam vorneweg rennen. Aus diesen verlässlichen Fast-Meisterleistungen setzt sich das solideste aller Markenzeichen zusammen, das weltweit bewunderte „Made in Germany“.

Früher wurden all die vielen Nahezu-Siege in einer einzigen Zahl zelebriert, die es regelmäßig in die Abendnachrich­ten schaffte: die Ausfuhrstatistik. Sind wir noch Exportweltmeister? Erstaunlich, wie rasch wir uns von diesem ­Titel verabschiedet haben, seit klar ist, dass wir ihn nicht mehr länger führen werden in Zeiten industrieller Großreiche wie China und Indien.

Bei allem: Ja, auch wir leisten uns traurige Ausrutscher. Dass uns andere Länder bei der Pressefreiheit schlagen, ist so beschämend wie ein Rang hinter Ruanda in der Frage der Unabhängigkeit der Justiz. Und die Solidität der heimischen Banken liegt mittlerweile hinter jener in Mexiko auf einem erschütternden Platz im Mittelfeld.

Makellosigkeit ist also nicht einer unserer Superlative. Aber auch keiner eines anderen Landes. Die Bilder von Christoph Morlinghaus flößen gleichwohl das Vertrauen ein, in einem Land zu leben, in dem die Summe der vielen Beinahe-Siege ein ziemlich positives Re- ­sultat ergibt.

Christoph Kucklick ist Chefredakteur von GEO, das seit Lan­gem einen Rekord hält: das „meistverkaufte frei verkäufliche Monatsmagazin Deutschlands“. Christoph Morlinghaus belichtet für seine Bilder 25 mal 20 Zentimeter große Negativ-Planfilmkassetten nur mit dem vorhandenen Licht. Das kostet Zeit: Im Gang des Internetversand-Waren­lagers Haldensleben war es eine Stunde Belichtungszeit. Lohn der Mühe: bis ins letzte Detail gestochen scharfe Bilder.

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